Die zehn Gebote aus säkularer Sicht

Wir hören und lesen immer noch regelmäßig, auch in säkularen Medien, über die Schönheit, Eleganz, Relevanz und Aktualität der Zehn Gebote, oder z. B. über die wichtige Rolle, die sie für die Menschenrechte, unsere Ethik oder das Rechtssystem spielen. Gleichzeitig können die meisten AnhängerInnen der dazu passenden Religionen sie nicht auswendig aufzählen, während sie sonst ein sehr gutes Gefühl dafür haben, was erlaubt ist und was nicht. Schauen wir uns also einmal an, was diese 10 Gebote sind, woher sie kommen und was sie sagen.

Als die ersten Christen, die aus dem hellenisierten Judentum hervorgegangen sind, die griechische Übersetzung der hebräischen Tora übernahmen, überschrieben sie den Text im Kapitel 20 des zweiten Buches Mose mit Die zehn Gebote. In der Erzählung bekommt sie Moses von Jahweh zur Vermittlung ans Volk ausgehändigt. Darauf folgen noch seitenweise absurde Vorschriften, die für die missionarisch orientierten Christen dann doch zu schlechtes Marketing waren, weswegen sie im Christentum keine Rolle mehr spielen. Einiges davon schrieb Gott auf Steintafeln und übergab sie Moses, der sie zum Volk brachte. (Es geht aus dem Text nicht hervor, ob nur die zehn Gebote, oder auch die folgenden Kleidungsvorschriften, Anleitungen zur richtigen Sklavenhaltung, Bauanleitungen und Rezepte auf die Steintafeln geschrieben wurden.)

Da das Alte Testament auf mindestens zwei verschiedenen Überlieferungen basiert und keine vernünftige Redaktion hatte, gibt es auch von dieser Geschichte noch eine zweite Variante im 5. Buch Mose.

Da Moses jedoch zu lang bei Gott weilte, baute sich das ungeduldige Volk ein goldenes Kalb als Ersatzgott. Moses war darüber so erzürnt, dass er die Tafeln fallen ließ. Was danach geschach, Jeder erschlage seinen Bruder, seinen Freund, seinen Nachbarn. Die Leviten taten, was Mose gesagt hatte. (2 Mose 32), wird heute nicht mehr so gerne erzählt, passt aber sehr gut zum Rest des Alten Testaments. Wie auch immer, Moses musste danach nochmal auf den Berg und diesmal auch schon selbst die Steintafeln beschreiben (2 Mose 34), weil es dem Allmächtigen wohl zu mühsam wurde. Diese Gebote sind ähnlich den ersten, beinhalten aber auch solche Highlights wie Das Junge einer Ziege sollst du nicht in der Milch seiner Mutter kochen. (Wer bitte kommt auf sowas?)

Jedenfalls sind dies die Gebote, die im judeo-christlichen Mythos auf den Steintafeln stehen, den zweiten Abstieg vom Berg überstanden und dann in der Bundeslade aufbewahrt wurden. Sie sind demnach laut Altem Testament der gültige Bund zwischen Gott und seinem Volk.

Aus kaum nachvollziehbaren Gründen gelten aber im Christentum nicht diese neuen Vorschriften als die zehn Gebote, sondern die frühere, verloren gegangene Version. Betrachten wir sie im Detail.

Das erste Gebot (nach mainstream-christlicher Zählung) beinhaltet das Verbot, neben/über/vor (je nach Übersetzung) Jahweh andere GöttInnen zu haben, Bilder von Gott anzufertigen, und sich vor anderen GöttInnen niederzuwerfen. Dies ist eine bleibende Erinnerung an die henotheistischen (es gibt zwar andere Götter, aber unserer ist der coolste) Ursprünge der jüdischen Religion – und gleichzeitig ein krasser Verstoß gegen die in den Menschenrechten festgelegte Religionsfreiheit. (Und wer Jesus-Abbildungen und -Kruzifixe in seinen Kirchen hat, sollte sich vielleicht auch nicht zu oft auf dieses Gebot berufen.)

Das zweite Gebot ist: „Du sollst den Namen des Herrn, deines Gottes, nicht missbrauchen; denn der Herr lässt den nicht ungestraft, der seinen Namen missbraucht.“ Wir AtheistInnen lachen über diese millionenfach widerlegte, frei erfundene leere Drohung, und das Bild von einem wehleidigen, zu leicht beleidigten Sky Daddy.

Das dritte Gebot, der Sabbat (der tatsächlich von Freitag Sonnenuntergang bis Samstag Sonnenuntergang dauert), hat heute kaum eine Bedeutung. Wer mag, gerne, aber anderen die Einhaltung vorschreiben hat schon sehr lang nicht geklappt, nicht einmal in Israel.

Das vierte Gebot ist: Ehre deinen Vater und deine Mutter – grundsätzlich keine schlechte Idee, aber es gibt Situationen, in denen es vernünftig ist, anders zu verfahren. Nicht alle Eltern verdienen es, bedingungslos geehrt zu werden.

Das fünfte Gebot, das Mordverbot, ist endlich etwas Vernünftiges, aber nicht gerade innovativ. Zu schade, dass gerade christliche Apologeten sich schon immer Begründungen ausdachten, warum es doch legitim ist, dass im Alten Testament reihenweise Völker ausgerottet werden – auf Gottes Befehl. Und wie beschrieben musste die Regel kurz nach ihrer Abfassung gleich gebrochen werden.

Sechstes Gebot, Ehebruchsverbot. In fortschrittlichen Rechtssystemen überhaupt kein Problem; Leute, die sich selbst bestrafen wollen, können sich natürlich diesen Eingriff in die sexuelle Selbstbestimmung antun.

Siebtes Gebot, du sollst nicht stehlen, OK, wieder zufällig auf eine der Grundlagen des menschlichen Zusammenlebens gestoßen. Alle Achtung, JHWH.

Achtes Gebot: Du sollst nicht falsch gegen deinen Nächsten aussagen. In der populären, missverstandenen Variante (Du sollst nicht lügen) schwer einzuhalten; so formuliert aber etwas überspezifisch und ermöglicht z. B. Betrug, psychische Manipulation, das Erzeugen religiöser Traumata durchs Erzählen wirrer Mythen und viele andere schädliche Dinge.

Das neunte und das zehnte Gebot beschreiben mögliche Gedankenverbrechen: Man soll nicht des Nächsten Haus, Frau, SklavInnen und Vieh begehren, in dieser Reihenfolge.

Was bleibt also von den zehn Geboten für unser heutiges Leben übrig? Mindestens fünf Verletzungen von Grundrechten (Meinungsfreiheit, Freiheit der Meinungsäußerung, Religionsfreiheit, sexuelle Selbstbestimmung), fünf irrelevante, weitestgehend ignorierte Regeln, und zwei tatsächlich sinnvolle Verbote, die aber in jeder Gesetzessammlung der Menschheit vor und nach Abfassung der Moses-Erzählungen auch schon so zu finden waren. Ungefähr vier bis sechs von den Kernideen, wenn auch nicht die konkrete Formulierung, lassen sich als irgendwie sinnvoll und relevant bezeichnen – mehr nicht.

Hier zeigt sich wieder, wie weit sich die populistisch-folkloristische, sehr oberflächliche Version der christlichen Tradition von der Realität der Gesellschaft des 21. Jahrhunderts entfernt hat. Wir haben längst eine moderne, humanistische, den Menschen und seine Bedürfnisse in den Mittelpunkt stellende Ethik und das Rechtssystem weitestgehend daran angepasst. Die vor zweieinhalbtausend Jahren aufgeschriebenen, aber noch älteren Mythen beherrschen unser Leben glücklicherweise nicht mehr.

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