Römisch-katholische Kirchenaustritte: Eine statistische Analyse

Was verursacht Kirchenaustritte? Es gibt dazu verschiedene Ansichten. In diesem Artikel soll mit statistischen Methoden, aber allgemein verständlich versucht werden, mögliche Ursachen zu prüfen und den Verlauf der Austritte aus der römisch-katholischen Kirche Österreichs besser zu verstehen.

Daten

Jede Analyse beginnt mit Daten. Neben dem eigenen Archiv der von der römisch-katholischen Kirche Österreichs publizierten Daten sind für allgemeine Daten über die Bevölkerung die Statistik Austria und für ältere Zahlen über die Austritte und der Katholiken die Forschungsgruppe Weltanschauungen in Deutschland herangezogen worden. So konnte ich Daten über die Bevölkerung, die Anzahl der römisch-katholischen Menschen und die Austritte aus der röm.-katholischen Kirche seit 1991 zusammenstellen. Der Bevölkerungsanteil (bis 1992 noch über 80 %, aktuell ca. 51 %) lässt sich durch eine einfache Division errechnen. Weiters gibt es seit 2010 Daten über die Summe der eingenommenen Kirchenbeiträge. Dazu habe ich nirgends ältere Daten gefunden, die Kirche hat sie früher schlicht nicht veröffentlicht. Wer sie hat, soll sie mir bitte schicken, bei Bedarf könnte ich mit diesen Daten die Analyse wiederholen. Außerdem gibt es Daten übers Medianeinkommen, über die evangelischen Kirchenaustritte und so weiter.

Alle verwendeten Daten und der Analyseprozess (im Statistiksystem R) sind am Ende des Artikels verlinkt.

Die Anzahl der Austritte und jene der römisch-katholisch zugeordneten Menschen sind sogenannte Zeitreihen. Für Zeitreihen existieren einfach nutzbare, fertige Vorhersagemethoden. Sie haben den Vorteil, dass sie häufig automatisiert und schnell brauchbare Vorhersagen liefern, und nichts anderes brauchen als die Zahlen aus der Vergangenheit. Das ist aber gleichzeitig ihr Nachteil: Wir können sie nicht verwenden, um Zusammenhänge mit anderen Daten herzustellen, um den Verlauf durch andere Daten zu erklären.

Hier ist ein Beispiel für die Prognose des katholischen Bevölkerungsanteils. Mit den Daten bis einschließlich 2022 ergibt der Algorithmus die Prognose, dass Ende 2024 der römisch-katholische Bevölkerungsanteil unter 50 % sinken wird – eine Erwartung, die mit anderen Methoden auch bestätigt wird. Das Diagramm zeigt neben dem wahrscheinlichsten Verlauf in den zwei immer breiter werdenden Bändern die Unsicherheit der Vorhersage (Konfidenzintervall). Diese Unsicherheit nimmt natürlich weiter in die Zukunft schauend zu, die Fläche der Unsicherheit wird breiter.

Diagramm: Prognose des römisch-katholischen
Bevölkerungsanteils

Sobald wir die 2023-er-Daten haben, können wir sie in die Zeitreihe einfügen und erhalten für die nächsten Jahre präzisere Vorhersagen.

Für die Austritte pro Jahr sind die automatischen Vorhersagen nicht so gut brauchbar, weil die Zahlen sich von Jahr zu Jahr ziemlich stark ändern. Dass sie mit der Zeit zunehmen, findet der Algorithmus problemlos heraus, nur sind die eingefärbten Konfidenzintervalle so groß, dass die Vorhersage praktisch wertlos ist.

Diagramm: Prognose der Austritte aus der römisch-katholischen
Kirche

Fehlende Kausalität

All das beantwortet noch nicht die Eingangsfrage: Was verursacht Kirchenaustritte?

Die Statistik hilft uns, Korrelationen festzustellen, aber die meisten von uns wissen: Korrelation heißt nicht Kausation. Wie in der Wissenschaft üblich können wir mit statistischen Methoden die Ursachen nicht belegen – aber falsche Annahmen widerlegen. Korrelation ist nicht automatisch Kausation, aber wenn eine behauptete Ursache statistisch keine Auswirkungen hat (also die Korrelation fehlt), ist die Annahme der Kausation auch widerlegt. Bei einer Ursache gehen wir ja davon aus, dass das Ereignis A das Ereignis B oft genug nach sich zieht, um eine Korrelation zu bemerken.

Weiters haben wir die Erwartung, dass ein behaupteter Zusammenhang plausibel sein sollte. Bei Spurious Correlations gibt es viele Kombinationen von Zeitreihen, die zwar korreliert sind, aber keinen plausiblen Grund für die Annahme eines ursächlichen Zusammenhangs erkennen lassen.

Eine simple Methode, Annahmen über die Stärke des Zusammenhangs zwischen verschiedenen Aspekten zu berechnen und gegebenenfalls zu widerlegen ist die Analyse von Regressionsmodellen. Keine Angst, es wird nicht zu mathematisch.

Der Kirchenbeitrag ist es! (?)

Der katholische Kirchenhistoriker Professor emeritus Rudolf K. Höfer meint, die Ursache zu kennen, und trägt seine Ansichten darüber gerne vor. Seine wasserdichte Methode zur Erkenntnis: „Die Bischofskonferenz hat es gesagt“.

Das verlinkte Video enthält gute historische Informationen, aber bei manchen Schlussfolgerungen auch einen enormen Unterhaltungswert. Der ehemalige Professor zitiert Austrittszahlen aus zwei österreichischen Bistümern und nennt ab 27:30 die viel niedrigeren Zahlen aus den angrenzenden Bistümern in Italien und Slowenien. Dann erklärt er, dass das jene Leute sind, die in Österreich arbeiten und wegen des in Österreich vorgeschriebenen Kirchenbeitrags im Land, in dem sie leben, austreten (ab 29:10). Das ist nicht einmal mehr das Vergleichen von Äpfeln und Birnen: Das ist Äpfel und Weihrauch.

Das System der Widmung eines Teils der Einkommenssteuer in Italien, Slowenien und Ungarn findet Prof. em. Höfer gut zum Vermeiden von Austritten. Aber Slowenien wieder schlecht, weil dort auch Vereine, nicht nur Kirchen begünstigt werden können. Dass in Ungarn in 20 Jahren die Anzahl der bekennenden Katholiken fast um die Hälfte zurückging, vergisst er, oder weiß es zu dem Zeitpunkt noch nicht.

Es ist ein Musterbeispiel dafür, wie der jahrzehntelange Einfluss der organisierten Leichtgläubigkeit und als Theologe die aktive Beförderung der organisierten Leichtgläubigkeit die Fähigkeiten eines Menschen zu logischen Schlussfolgerungen beeinträchtigen.

Überprüfen wir erst einmal intuitiv die Annahme. Der Vortrag schildert die Geschichte des Kirchenbeitrags in Österreich. Wenn wir nur die Zeit der Republik seit 1945 betrachten, sehen wir, dass der Kirchenbeitrag seither immer bestand. Unsere Zahlenreihe startet 1991 mit über 80 % Katholiken, die in 32 Jahren auf knapp über 50 % fallen. Zwischen 1945 und 1991, in 46 Jahren, gab es also viel weniger Austritte als danach – bei von Anfang an bestehendem Kirchenbeitrag.

Die Frage der Plausibilität ist also schon einmal mit großen Fragezeichen versehen. Die durchschnittliche Austrittsrate zwischen 1991 und 2022 kennen wir: 0,089 %. Hätte diese Austrittsrate zwischen 1945 und 1990 bestanden, würde unsere Zeitreihe nicht von über 80 %, sondern von 65 bis 70 % starten. Wir bräuchten in Wirklichkeit eine Erklärung, mit der die Austrittsrate trotz des seit 1945 immer bestehenden Kirchenbeitrags zuerst 45 Jahre lang niedrig ist, dann 20 Jahre lang langsam ansteigt, und dann ab 2010 permanent über einem Prozent pro Jahr liegt.

Oder schauen wir in andere Länder, die keinen Kirchenbeitrag haben. Es stellt sich heraus, dass die Abwendung von Religion in allen westeuropäischen Ländern in ähnlichem Maß fortschreitet, obwohl die meisten Länder eben keinen Kirchenbeitrag haben. Sie haben halt deswegen auch kein Konzept von einem Religionsaustritt: Es ist einfach nicht notwendig.

Ungarn wurde bereits erwähnt, in Großbritannien ist nur mehr eine Minderheit christlich, und so weiter. Selbst in den als christlich geltenden USA vollzieht sich dieser Wandel in einem immer stärkeren Ausmaß.

Die Austritte

Denken wir kurz über „den Austritt“ nach. Der Kirchenaustritt einer bestimmten Person ist die Folge psychischer Prozesse, eine innere Entscheidung. Häufig der Verlust des Glaubens, oder die Unzufriedenheit mit der Organisation. Diese individuellen Entscheidungen betrachten wir hier nicht, sondern die Summe der Austritte, was dann schon eine soziologische Frage ist. Gesellschaftliche Veränderungen haben einen Einfluss auf die individuellen Entscheidungen.

Jeder Austritt führt dazu, dass andere Menschen sehen, dass das in Ordnung ist. Die Austritte werden gesellschaftlich normalisiert. Insbesondere dann, wenn die Medien tagelang über Rekord-Austrittszahlen berichten.

Jeder Austritt verringert die Basis, also die Anzahl derer, die noch austreten können. Wenn es viele Austritte gibt und die Basis sonst auch kleiner wird, und der gleiche Anteil von Menschen (z. B. ein Prozent) pro Jahr austritt, werden die absoluten Zahlen, also „wie viele Menschen ausgetreten sind“, kleiner und kleiner. Dies ist die Zahl, die in den Medien diskutiert wird, und nach jeder Rekordzahl freut sich die Kirche, wenn im darauffolgenden Jahr weniger Menschen austreten. Auch wenn der Anteil der Ausgetretenen an der Basiszahl wieder einmal gestiegen ist, also von 1000 Menschen sich mehr als vorher für den Austritt entschieden haben.

Für unsere Analyse des Austrittsverhaltens ist aber der Anteil der vormaligen Mitglieder, die pro Jahr austreten, hilfreicher. Wenn es einmal soweit ist, dass die absoluten Austrittszahlen durch die schwindende Basis wieder zurückgehen, können wir immer noch sinnvoll Trends analysieren. Und das Zurückrechnen auf Austritte ist immer leicht möglich.

Außerdem haben wir auf dieser Ebene vergleichbare Daten von den evangelischen Kirchen in Österreich; leider ist bei ihnen die Datenbasis nicht so vollständig, aber immerhin für die letzten 15 Jahre verfügbar. (Wer mehr Daten hat, möge sie mir bitte schicken.) Und da stellt sich heraus, dass die Austrittsrate für evangelisch (Augsburger Bekenntnis, die größte evangelische Gruppe in Österreich) seit geraumer Zeit über der Austrittsrate aus der römisch-katholischen Kirche liegt.

Diagramm: Austrittsrate aus der römisch-katholischen und der evangelischen
(AB) Kirche Österreichs. Orange sind die evangelischen Austritte, blau die
römisch-katholischen.

Ein einziges Jahr bildet eine Ausnahme: 2010, das Jahr der römisch-katholischen Kindesmissbrauchsskandale. Oder genauer, das Jahr, seit dem das Image der römisch-katholischen Kirche permanent mit Kindervergewaltigung verbunden ist. Dies ist am Diagramm auch direkt abzulesen, aber bleiben wir erst einmal bei der evangelischen Kirche AB. Die Austrittsrate steigt kontinuierlich, erreicht 2016 1,5 % und im Jahr 2019 2 %. Jede fünzigste evangelische (AB) Person hat sich in diesem einen Jahr für den Austritt entschieden – und seither jedes Jahr. Viele erinnern sich noch: Im Jahr 2019 informierte der Europäische Gerichtshof die Republik Österreich darüber, dass es natürlich nicht geht, dass Angehörige einer Religionsgesellschaft einfach einen zusätzlichen bezahlten Feiertag bekommen, nur durch ihre mit der Geburt und Babytaufe erworbene Zugehörigkeit. Nach dieser Entscheidung und ihrer Umsetzung in Österreich sind die bereits hohen Austrittsraten noch weiter gewachsen.

Bei den Römisch-Katholischen ist 2010, das Jahr der öffentlichen Diskussion über die Rolle des Klerus in der Begehung und Vertuschung von Kindervergewaltigungsfällen, ein wichtiger Meilenstein. Die Austrittsrate trat damit permanent auf eine höhere Stufe. Kein Jahr davor hatte eine höhere Austrittsrate als irgendein Jahr danach. Dieser Skandal köchelt weiter und weiter, es gibt jedes Jahr Verurteilungen, Nachrichten aus anderen Ländern über dortigen Missbrauch, es erscheinen Aufarbeitungen einzelner Diözesen und so weiter.

In der Corona-Pandemie ging die Zahl der Austritte erst einmal zurück. Der Austritt ist häufig mit einem Amtstermin verbunden (auch wenn er mittlerweile auch mit digitaler Signatur von zu Hause aus geht), die Möglichkeiten waren somit eingeschränkt. Seither steigt die Austrittsrate aber steil an. Schon 2021 auf eine vergleichbare Höhe wie 2010 – das erscheint in den absoluten Zahlen gar nicht so deutlich, aber da sind ja auch zehn Jahre dazwischen, in denen die Basis merklich kleiner wurde. 2022 war dann das Jahr der Rekord-Austritte, sowohl absolut als auch in der Austrittsrate. Einerseits erschien im Jänner 2022 der Missbrauchsbericht aus Bayern, der auch in Österreich großes Interesse fand; andererseits fand die Kirche bereits für 2021 eine zusätzliche Erklärung für manche Austritte, nämlich das Eintreten für die Covid-Impfungen. Dies ist plausibel, aus vielen anderen Gruppen hat sich ein gewisser Anteil wegen der Impfdiskussionen verabschiedet.

Statistische Modellierung der Austrittsrate

Wir möchten also ein Modell für die Austrittsrate bauen. (Wir wenden einen Algorithmus, also festgelegte Schritte auf die Daten an, um ein Modell zu erhalten – diese Dinge werden in der öffentlichen Diskussion häufig verwechselt.) Das Modell hilft uns im Idealfall in zwei Punkten: Einerseits können wir seine Eigenschaften analysieren, zum Beispiel die Stärke des Zusammenhangs einzelner Aspekte mit der Zielgröße; andererseits können wir es auch benutzen, um neue Daten, z. B. das nächste Jahr vorherzusagen. Wenn wir das machen wollen, müssen wir uns aber auf solche Informationen beschränken, die zum Zeitpunkt der Vorhersage bereits bekannt sind.

Machen wir erst einmal etwas scheinbar Dummes: Erstellen wir ein Modell der Austrittsrate in Abhängigkeit von der Jahreszahl. Es gibt dafür zunächst keine plausible Erklärung: Warum sollte die Austrittsrate gerade von der Jahreszahl abhängen? Wenn wir einen Zusammenhang finden, wie erklären wir den? Außer dass, wie wir gesehen haben, die Austrittsrate mit der Zeit zunimmt, also wäre die Erklärung vorerst nur das, was wir schon wissen, ein Zirkelschluss.

Wir erhalten trotz aller Bedenken ein Modell, in das wir die Parameter (also die Jahreszahl) nochmal einsetzen können, um die Vorhersagen des Modells zu bekommen. Das schaut grafisch dargestellt so aus:

Diagramm: Vorhersage der jährlichen Austrittsrate nur mit der
Jahreszahl

Wie man leicht sieht, steigt laut diesem Modell aus diesen Daten die Austrittsrate konstant an. Die eine Gerade, die wir erhalten haben, passt sich aber nicht besonders gut an den tatsächlichen Verlauf an, also an die Spitzen und die Tatsache, dass nach 2010 das Niveau anders ist als vorher. Auch die Abweichungen am Anfang und am Ende sind ein Anlass für Besorgnis über die Modellqualität.

Die Steigung der Geraden ist an den gesamten Zeitraum angepasst. Dabei wissen wir, dass es vor 2010 eine langsamer und seither eine schneller steigende Gerade geben müsste. Das Modell weiß das halt nicht.

Neben dem Diagramm können wir eine Kennzahl berechnen, die den Zusammenhang zwischen den Vorhersagen und den tatsächlichen Werten wiedergibt. Dafür wird gerne die R²-Statistik („Bestimmtheitsmaß“) verwendet, die in einer einzigen Zahl wiedergibt, wie viel von der Variation der Daten das Modell erklärt. Die R²-Zahl kann zwischen 0 und 1 liegen, höhere Werte sind besser.

Für unser hanebüchenes Modell erhalten wir ein R² von 0,696 („Adjusted R-squared“ im Statistikprogramm R). Das ist die Basis für Vergleiche, also von einem bewusst nicht gut gewählten Modell.

Austritte durch Kirchenbeitrag?

Um ein Modell zu rechnen, brauchen wir immer etwas, was sich auch ändert: Konstante Zahlen tragen zum Modell nicht bei. Wir können also nicht „Kirchenbeitrag ja/nein“ oder „Kirchenbeitrag = 1,1 % des Einkommens“ in unsere Modelle einsetzen. Es muss etwas sein, was den tatsächlich gezahlten oder vorgeschriebenen Kirchenbeitrag abbildet.

Bei der Statistik Austria bekommen wir für 1997 bis 2021 das jährliche Median-Nettoeinkommen der unselbständig Beschäftigten. Rechnen wir davon 1,1 %, also den Kirchenbeitrag aus, erhalten wir eine Zeitreihe, die in diesem Zeitraum von etwa 160 auf 260 € steigt. (Für 2022 ist noch keine Zahl bei der Statistik Austria erhältlich. Diese habe ich mit einer Zeitreihen-Vorhersage erstellen lassen. Die Bischofskonferenz hat Anfang 2022 angekündigt, die Vorschreibungen nicht im Ausmaß der Inflation zu erhöhen, also können sowohl die alten Berechnungen als auch die 2022-Vorhersage ungenau sein. Aber genauer wissen wir es derzeit einfach nicht.)

Wir müssen aber im Kopf behalten, dass zwar der Median-Kirchenbeitrag regelmäßig steigt, aber das Einkommen im gleichen Maße mehr wird. Es ist also weiterhin ein konstanter Anteil, nur könnten wir damit kein Modell bauen. Mit der Verwendung des Median-Kirchenbeitrags überschätzen wir dessen Einfluss etwas. Gleichzeitig ist es im Laufe eines Erwerbslebens meistens so, dass das Einkommen steigt, somit auch der Kirchenbeitrag. Es ist also komplex.

Versuchen wir, ein Modell mit diesen Daten zu bauen.

Diagramm: Vorhersage der jährlichen Austrittsrate mit dem 
Median-Kirchenbeitrag

Die Vorhersage-Kurve ist nicht mehr eine Gerade, weil das Medianeinkommen (und damit der davon abgeleitete Kirchenbeitrag) zwischen den Jahren nicht mit dem gleichen Abstand wächst. Und sie erwischt wichtige Perioden (z. B. den Rückgang der Austrittsrate ab 2005, die große Spitze 2010 und die steile Steigerung ab 2021) überhaupt nicht. Im Gegenteil. Auffällig ist zum Beispiel das starke Wachstum 2016, während die Austrittsrate zurückgeht.

Das Bestimmtheitsmaß R² ist 0,72, kaum größer als beim Basismodell. Das ist keine spektakuläre Bestätigung der Hypothese „der Kirchenbeitrag verursacht Austritte“, aber auch keine besonders starke Widerlegung, soweit es statistische Methoden betrifft. Aber, wie erklärt, wir haben hier die für die Hypothese günstigste Annahme verwendet, nämlich dass die absolute Höhe der Beitragszahlungen (trotz in ähnlichem Ausmaß steigender Einkommen) wirklich die Ursache für mehr Austritte wäre.

Ein weiteres Problem mit diesem Ansatz ist, dass, wie wir gesehen haben, im Dezember 2023 noch kein Medianeinkommen für 2022 publiziert ist. Wir können diese Zahl also nur dann für eine Vorhersage der Austritte verwenden, wenn wir sie rechtzeitig erfahren oder wie hier selbst vorhersagen – was aber zusätzliche Ungenauigkeit ins Modell einbringt.

Wenn die Bischofskonferenz der Meinung ist, dass der Kirchenbeitrag wirklich die Ursache wachsender Austritte ist, hätte sie ein einfaches Mittel, diese These zu überprüfen: Sie – und nur sie – kann die Vorschreibung verringern. Wenn die Austritte danach zurückgehen, war die Hypothese richtig. Es ist aber die Frage, wie weit die Bischöfe diese wichtigste Einnahmequelle noch verringern wollen: Fundamentalistischere christliche Gemeinden verlangen von ihren Mitgliedern 10 % des Einkommens, nicht nur 1,1 % wie die römisch-katholische Kirche in Österreich.

In diesem Zusammenhang wäre es auch möglich, dass der Kirchenbeitrag zwar im Allgemeinen keine großen Austrittsbewegungen bewirkt, aber in einzelnen Situationen schon. Das könnte z. B. bei einem Jobverlust oder hoher Inflation oder steigenden Energiekosten die Notwendigkeit sein, die eigenen Ausgaben kritisch zu überprüfen und unnötige Zahlungen zu vermeiden. Dies wäre z. B. in der Finanzkrise um 2009 herum sowie seit 2022 eine mögliche Erklärung, ein Mit-Grund – nur eben nicht die Erklärung, die wir von der Kirche hören.

Andere Begründungen für Austritte

Teilweise hören wir die Behauptung: Wenn die römisch-katholische Kirche nur bereit wäre, Zölibat, Frauendiskriminierung, die Diskriminierung von Menschen mit anderen Lebensentwürfen usw. zu beenden, dann würden die Austritte aufhören. Wir haben aber gesehen, dass die evangelischen Kirchen, die genau diese Probleme nicht haben, noch höhere Austrittsraten haben. Auch die altkatholische Kirche, die seit 2023 in Österreich eine Bischöfin hat und auch in anderen gesellschaftlichen Fragen viel fortschrittlicher ist, könnte von 90.000 römisch-katholischen Austritten pro Jahr profitieren, wenn das der Grund wäre. Nur sehen wir das nicht.

Da wir die Abwendung von Religion international in einem ähnlichen Ausmaß sehen, wäre es naheliegend, die Säkularisierung der Gesellschaften, die wiederum ein komplexes Phänomen mit vielen Ursachen ist, als Grund zu betrachten. Intuitiv ist das verständlich: Für die erste Person einer Gemeinschaft kann der Austritt ein ziemlich schwieriger Schritt sein. Sind aber bereits einige ausgetreten, fällt diese soziale Hürde für andere weg. Damit ließe sich die steigende Austrittsrate also auch erklären.

Welche Kennzahl wählen wir? Da in Österreich lange Zeit die katholische Kirche die dominante Religion war und sie heute auch ca. fünfmal so viele Mitglieder hat wie alle anderen christlichen Religionsgesellschaften zusammen, können wir versuchen, den Grad der Säkularisierung einfach mit dem nicht-katholischen Bevölkerungsanteil zu errechnen. Wir haben ja für den gesamten Zeitraum die Bevölkerung und die Anzahl der Katholiken, das ist also leicht. Nur dass wir fürs aktuelle Jahr natürlich den Bevölkerungsanteil, der am Ende des Jahres erreicht wird, nicht kennen – die Bevölkerung Österreichs am Ende des Jahres auch nicht. Wir bauen das Modell für die Austritte jeden Jahres also mit den Zahlen des Jahres davor.

Diagramm: Vorhersage der Austritte mit dem Grad der Säkularisierung
(angenähert durch den nicht-katholischen
Bevölkerungsanteil)

Inhaltlich schaut die Kurve unauffällig aus. Sie beginnt etwas niedrig, weil eben vor den 1990er-Jahren ein so großer Anteil der Bevölkerung noch katholisch war. Und nach stärkeren Austrittsjahren steigt sie auch steiler an als z. B. die Kurve auf Basis des Medianeinkommens. Die Spitzen bildet diese Kurve jedoch auch nicht ab, und der R²-Wert liegt nur bei 0,689, also etwas niedriger als bei den bisherigen Modellen. Statistisch ist das kein gutes Modell, obwohl wir eine so plausible Erklärung hatten.

Nehmen wir also die Austritte des Jahres davor dazu. Das ist ja auch irgendwie logisch, die „frischen“ Austritte im Umfeld können zusätzliche Menschen dazu verleiten, den Austritt als akzeptablen Schritt anzusehen. Gleichzeitig hilft uns das, das höhere Niveau ab 2010 abzubilden.

Diagramm: Vorhersage der Austrittsrate mit dem Grad der Säkularisierung
und die Austritte des Jahres davor)

Es wird besser. Der niedrigere Grad vor 2010 und der höhere ab 2010 werden endlich abgebildet, die jährlichen Schwankungen und Spitzen sind halt um ein Jahr verschoben. Das Bestimmtheitsmaß steigt auf 0,715, und wir haben immer noch plausible Erklärungen für die Nutzung der beiden Variablen. Natürlich können wir mit diesem Modell nur das laufende Jahr vorhersagen, und auch erst, nachdem die Austrittszahlen fürs Vorjahr bekannt geworden sind. Langfristige Prognosen sind mit diesem Modell nicht möglich. Aber es erklärt zunehmend besser das allgemeine Niveau der Austrittsrate.

Skandale als Austrittsgründe

Vielfach werden auch katholische Skandale und andere Ereignisse mit öffentlicher Diskussion sowie langjährige Missstände wie die Diskriminierung von Frauen als Austrittsgründe genannt. Wie könnten wir diese abbilden?

Ein Ansatz ist, dafür eine Spalte namens Skandal in die Daten einzuführen. Den Wert dieser Spalte legen wir zwischen 0 und 1 fest, auf Basis einer historischen Betrachtung (bzw. fürs aktuelle Jahr, wenn wir es vorhersagen wollen, mit Beobachtung der öffentlichen Diskussion während des Jahres). Natürlich ist die Festlegung der Werte subjektiv und sollte mit Bedacht und guten Erklärungen durchgeführt werden, und auch ohne Betrachtung der tatsächlichen Austrittskurve, nur auf Basis der Einschätzung der öffentlichen Diskussion. Die absolute Größe (also ob wir 1 oder z. B. 100 als Obergrenze wählen) ist auch egal, solange man die Skandale des Jahres sinnvoll in Verhältnis mit anderen setzt.

Bis 2009 wähle ich für die Skandal-Variable den Wert 0, außer für 1995. Damals wurde die Groer-Affäre publik – aber die römisch-katholische Kirche hatte noch genug Macht und war unantastbar genug, damit es bei einer Behauptung, der nicht einmal vernünftig nachgegangen wurde, blieb. Dies beschreibe ich mit dem Wert 0,3.

2010 war dann das Jahr des Kindesmissbrauchsskandals schlechthin. Die katholische Kirche stand international und in Österreich plötzlich als kriminelle Organisation da, es waren nicht mehr bedauerliche Einzelfälle, sondern das System als Ganzes in der Diskussion. Dieses Jahr bekommt den höchsten Wert, nämlich 1 zugeordnet.

Seither, also ab 2011 setze ich 0,3 als Basisniveau für die Skandalisierung an. Das Thema Kindesmissbrauch bekommt die Kirche nicht weg, und das Tabu, die Kirche, ihre Lehren und ihre Praxis sowie den Papst öffentlich zu kritisieren, ist gefallen.

2020 war das Corona-Jahr, Behörden waren für eine Weile geschlossen, und viele Menschen hatten andere Sorgen als sich um einen Kirchenaustritt zu kümmern. Gleichzeitig behaupteten die Kirchen, ihre Stärken in der Pandemie ausspielen zu können, nämlich den Menschen Halt zu geben. Aus diesen Gründen setze ich für dieses Jahr 0,2 statt 0,3 an. Ja, das ist ein bisschen ad-hoc, aber die Begründung klingt plausibel.

2021 und 2022 waren die öffentlichen Diskussionen wieder stärker. Die Kirche nannte als Austrittsgrund in vielen Fällen das Eintreten für Impfungen. Kardinal Schönborn mit der Aussage „Herr, lass Hirn regnen!“ kam für viele auch nicht ideal rüber. Anfang 2022 erschien zudem die München-Freising-Missbrauchsstudie, die auch den Ex-Papst Ratzinger belastete. Dazu kamen weithin diskutierte Themen wie die Inkompetenz von Kardinal Woelki, der „Synodale Weg“ und die Rückmeldungen dazu, dass es eh egal ist, was die nationalen Versammlungen beschließen, und so weiter. Für 2021 wähle ich daher 0,5 und für 2022 0,75 als Skandal-Wert.

Das neue Modell wurde mit dem Grad der Säkularisierung (nicht-katholischer Bevölkerungsanteil im Vorjahr) und der Skandal-Bewertung erstellt. Auf die Austritte im Jahr davor habe ich verzichtet, um ein einfacheres Modell zu erhalten, und weil das Modell mit den Austritten nicht besser wurde.

Diagramm: Vorhersage der Austrittsrate mit dem Grad der Säkularisierung und
den Skandal-Indikatoren

Dieses Modell gibt den Verlauf endlich etwas besser wieder: Den langsamen Anstieg vor 2010, die Spitzen in Skandal-Jahren, das höhere Niveau seit 2011 und den steilen Anstieg der letzten Jahre. Das Bestimmtheitsmaß ist 0,908, also deutlich höher als wir bisher gesehen haben. Dies ist ein gutes Modell.

Natürlich kann man über die genaue Festlegung der Skandal-Verhältnisse diskutieren. Und wir müssen der Versuchung widerstehen, die Werte ab 2010 auf Basis des Diagramms feiner einzustellen, um die Kurve besser zu treffen: Die Maßzahl der Skandalisierung sollte unabhängig vom Modell und vom Diagramm bestimmt werden, nicht willkürlich, nur damit das Diagramm für alte Daten besser aussieht.

Selbst wenn man auf die „willkürliche“ Festlegung der Skandal-Werte seit 2010 verzichtet und einfach 0,3 für alle Jahre seither setzt, ist das Modell noch deutlich besser als die früheren und hat einen sinnvoll erscheinenden Verlauf, nur dass es die höheren Austritte der letzten beiden Jahre nicht vorhersagt.

Ich bleibe also beim dargestellten Modell. Es ist auf Basis von plausiblen Überlegungen entstanden und erklärt das Phänomen gut. Und damit ist auch eine Vorhersage für 2023 schon während des Jahres möglich.

Für 2023 würde ich 0,4 als „Skandal-Faktor“ ansetzen. Es gab einiges an Kritik an der Kirche, seltsame Äußerungen des Papstes und so weiter, aber keine krassen Fälle oder Diskussionen. Es ist die Frage, ob die Rekord-Austritte im Vorjahr besonders ins Gewicht fallen, und viele andere zum Austritt verleiten. Dann wäre ein höherer Faktor angemessen.

Mit 0,4 ergibt das Modell 65.995 Austritte. Mit 0,7 wären es 77.502. Mal sehen, was dem echten Ergebnis nahe kommt. Sollten die Austritte weiter deutlich steigen, haben wir ein Phänomen, das wir noch genauer untersuchen müssen – etwa einen exponentiellen Faktor bei der Beschleunigung der Säkularisierung.

Fazit

Es hat sich gezeigt, dass die Austritte aus der römisch-katholischen Kirche sich nicht mit einer einzigen Begründung erklären lassen. Erst die Kombination von zwei gut überlegten und plausiblen historischen Kennzahlen hat zu einem annehmbaren Modell geführt, das allerdings nur fürs laufende Jahr verwendbar ist und einiges an subjektiven Einschätzungen erfordert.

Längerfristig können wir nur sagen, dass die Austrittsrate ziemlich kontinuierlich steigt, was für eine Weile noch zu Rekordzahlen bei den Austritten führen wird. Wann diese Entwicklung aufhört oder die Richtung ändert, lässt sich derzeit mit statistischen Methoden nicht vorhersagen.

Die historische Begründung der Austritte durch die Bischofskonferenz hat sich nicht wirklich bestätigen lassen: Sie ist angesichts der internationalen Entwicklungen und auch durch die fehlende Abbildung von Austritts-Spitzenjahren weder plausibel noch ausreichend. Das bedeutet aber auch, dass die Kirche ohne genaue Kenntnis der Austrittsgründe arbeitet oder diese nicht offen kommuniziert.

Daten und Analyseskript zum Herunterladen

Teilen:
Reddit
WhatsApp
Telegram