Filmkritik: Die Bologna-Entführung

Der Film “Die Bologna-Entführung” läuft aktuell im Kino, und ich habe ihn mit zwei Radio-Athikan-Podcast-Hörern angeschaut. Insgesamt ein empfehlenswerter, gut gemachter, aber auch anstrengender Film.

In dieser Filmkritik möchte ich aus säkularer Sicht auf einige Dinge eingehen, die die klassische Filmkritik (wofür ich wiederum nicht ausgebildet bin) wahrscheinlich nicht so beachtet.

Die Geschichte ist seit 160 Jahren bekannt, ich hoffe, dass ich sie für niemanden spoilere.

Um 1858 herum ist Bologna noch Teil des Kirchenstaates, dessen Oberhaupt der Papst in Rom ist. Die jüdische Familie Mortara lebt in einem gewissen Wohlstand halbwegs unbehelligt in der Stadt, bis der Inquisitor mit Polizisten, die ihm unterstehen, erscheint, und den sechsjährigen Buben Edgardo mitbringt. Grund: Der sei getauft, damit Christ, und nach Kirchenrecht dürfe er nicht in einer jüdischen Familie aufwachsen. Die Eltern wissen nicht, wann der Bub getauft worden sein soll, können die Staatsmacht aber nicht aufhalten.

Hintergrund: Im Kirchenstaat konnten sich JüdInnen nur unter strengen Auflagen niederlassen und wirtschaftlich betätigen und mussten Sondersteuern zahlen. Sie waren also stark benachteiligt, aber in relativer Sicherheit. Solche Kindesentführungen gab es in den Jahrhunderten davor regelmäßig, im 19. Jahrhundert waren sie schon seltener.

Nach der Wegnahme darf Edgardo noch einmal für einen Tag nach Hause. Gleichzeitig lügt der Pfarrer, mit dem die Eltern verhandeln, über die Zukunft des Kindes, und gibt an, dass Edgardo in Bologna bleiben wird. Dem ist nicht so; der Bub wird nach Rom gebracht. Er kommt in ein Internat, das im Vatikan direkt dem Papst unterstellt ist, und tatsächlich kümmert sich der Papst auch persönlich ums Kind.

Es dauert nicht lang, bis die Weltpresse Wind vom Ereignis bekommt. Dies ist eine der ersten in der langen Reihe von weltweiten Empörungen über die Machenschaften der katholischen Kirche. Die Stimmung ist eindeutig gegen den Papst, sogar Länder mit katholischer Mehrheit (Österreich, Frankreich usw.) protestieren. Dies beschäftigt den Papst (Pius IX.) zwar, aber er lehnt als vermeintlicher Wahrheits-Besitzer jede Einmischung ab. Das war übrigens der Papst mit der Unfehlbarkeit, und auch Massenpsychosen wie der Beginn der Lourdes-Hysterie fallen in seine lange Amtszeit.

Das sechsjährige Kind, das mit der grauslichen katholischen Ästhetik bis dahin keinen Kontakt hatte, wird in Rom diesbezüglich einer Schocktherapie unterzogen. Einerseits schenken sie ihm eine Halskette mit Kreuz und reden ihm ein, das sei ein Glücksbringer (kann man im weiteren Verlauf des Films so nicht bestätigen), andererseits wird er regelmäßig mit übergroßen Folterdarstellungen in Form von Kruzifixen und Statuen konfrontiert. Weiteren geistlichen Missbrauch zeigt der Film nicht. Im Gegenteil, das Kindermissbrauchsheim, in dem er gefangen gehalten wird, bietet ihm oberflächlich gute Bedingungen, eine niveauvolle Ausbildung (zusätzlich zum katholischen Schwachsinn), gleichaltrige Kinder, Aufmerksamkeit des Papstes und materielle Dinge wie gutes Essen – aber auch gnadenlose Indoktrination.

Währenddessen finden die Eltern heraus, dass das katholische Kindermädchen Edgardo einmal in einem unbeobachteten Moment notgetauft hat. Hier eiert der Film etwas ums historisch bekannte Geschehen herum: Die Eltern behaupten, dass es keine schwere Krankheit gegeben hätte, während die Nottaufe damals mit einer solchen gerechtfertigt wurde.

Das Kind, das nach einem angeblich im Geheimen ausgeführten, oberflächlichen Ritual seiner Menschenwürde und seiner Identität beraubt wird, wird im Vatikan zur Sicherheit (?) noch einer zweiten Taufe unterzogen. Das ist in Katholistan eigentlich verboten, aber wie immer gibt es im kanonischen Recht eine Hintertür, in Form der Konditionaltaufe, die für den Fall gedacht ist, dass die erste Taufe zweifelhaft war. Nachdem der eigentliche Grund der Entführung also in Zweifel steht, werden unumkehrbare Tatsachen geschaffen. Ein zweiter juristischer Ansatz, nach dem man Kinder unter sieben Jahren nicht entführen dürfte, scheitert später vor Gericht. Insgesamt lässt der Film beim Gerichtsprozess, der sowieso nur die Bestrafung des Inquisitors in Bologna, aber nicht die Rückgabe Edgardos betrifft, Fragen offen.

Bologna wird zwei Jahre nach der Entführung aus dem Kirchenstaat befreit. Dies ist ja die Zeit der Vereinigung Italiens. Bis auch Rom drankommt, dauert es jedoch noch weitere zehn Jahre. Bis dahin ist Edgardo Mortara schon umerzogen, er ist in der Ausbildung zum Priester. Sein Bruder, der unter den Revolutionären kämpft, holt sich von ihm eine Abfuhr: Edgardo kommt nicht nach Hause. Bei einem späteren Besuch weist er auch seine Eltern zurück. Der Film endet damit, dass er seiner Mutter, die am Sterbebett liegt, noch eine Taufe aufzwingen will. Dies ist, wie andere Darstellungen im Film auch, nicht historisch.

Die Vorgänge, die dazu führen, dass aus einem sechsjährigen, in seiner Familie glücklich lebenden Kind ein katholischer Priester wird, werden im Film nicht gezeigt. Auch der übliche geistliche Missbrauch scheint nur in Ansätzen durch, etwa in der Szene, in der die Kinder nach dem Tod eines kranken Mitschülers diskutieren, dass sie wohl nicht genug gebetet haben. Aber keine einzige Höllendrohung gegenüber den Kindern, kein Aufhetzen gegen eine sündige Welt, gegen Frauen, gegen die Eltern. Wenn antijudaistische Gebete gesprochen werden, sind sie nur akustische Untermalung, kein Teil der Ausbildung. Insofern ist der Werdegang vom verschreckten Buben, der mit der Mama nach Hause möchte und vorm Einschlafen noch sein jüdisches Gebet spricht, zum Priesterseminaristen zehn Jahre später nicht gut nachgezeichnet.

Dass es eine schlechte Idee ist, der dogmengesteuerten und menschenverachtenden katholischen Kirche Staatsgewalt zu geben, ist keine Schlussfolgerung, die man sich schwer erarbeiten müsste. Schließlich hat der Fall schon damals zu weltweiter Empörung geführt. Mit der danach ausbleibenden Unterstützung Frankreichs für den Kirchenstaat hat die Kindesentführung sogar das Ende dieser veralteten Theokratie beschleunigt. Dogmen und Recht, die zum eigenen Untergang führen: Das ist ein Kennzeichen eines dysfunktionalen Systems.

Eines Systems, das trotz allem noch von Kräften wie Opus Dei herbeigesehnt wird. Dass das keine Verschwörungserzählung ist, zeigen die Verbindungen zwischen dem aktuellen US-amerikanischen Vizepräsidentschaftskandidaten JD Vance, der Heritage Foundation mit ihrem Project 2025, und katholischen Kreisen, die in die Zeit vor dem zweiten Vatikanum zurückkehren wollen. In diesem zweiten vatikanischen Konzil wurde die katholische Kirche in den 1960-er-Jahren minimal modernisiert, zum großen Ärger von Kräften wie eben Opus Dei. Die rechtskonservative Ausrichtung der Kirche in manchen Ländern, unter anderem in den USA, führt direkt zu einem politischen und gesellschaftlichen Machtanspruch. Auch wenn Katholiken in den USA immer eine Minderheit waren: Langjährige, gut finanzierte und organisierte Machenschaften haben etwa das Supreme Court mit einer konservativ-katholischen Mehrheit besetzt. Im Gegensatz zu den fragmentierten und leicht für jeden fromm klingenden Blödsinn motivierbaren evangelikalen Freikirchen sind die Katholiken ein homogener, hierarchisch organisierter Block mit lang angelegten und konsequent ausgeführten Plänen und dem nie vergessenen Wunsch, möglichst der ganzen Welt vorzuschreiben, wie sie zu sein hat. Wer die Wahrheit exklusiv besitzt, braucht sich nicht um Demokratie zu kümmern. Die WählerInnen in den USA könnten im Film sehen, was ihnen langfristig blüht, wenn sie sich für den dümmlichen und leicht manipulierbaren Trump und JD Vance, den Kandidaten dieser trad-cath-Kreise, entscheiden.

Der Film wiederholt ein Motiv mehrmals: Die katholischen Handelnden werden gefragt, ob sie sich schämen. Aber das tun sie nicht. Zu tief sind sie in ihrem Katholizismus gefangen, in dem die Ordnung, die Hierarchie und die Einbildung, grundsätzlich die richtige Seite zu sein, über menschlichem Empfinden stehen. Dieses Weltbild bringt Leute dazu, Dinge zu tun, für die sie sich schämen sollten. Bis heute, wenn wir an die Vertuschung von Kindesmissbrauch und weitere Verbrechen christlicher Kirchen denken.

Scham ist ein sozialpsychologischer Korrekturmechanismus. Wir empfinden Scham, wenn wir etwas gesellschaftlich Inakzeptables getan haben oder tun. In einer funktionierenden Gesellschaft würde Scham Verstöße gegen Normen von innen, aus dem Menschen heraus sanktionieren oder vermeiden, mit zwei Ausnahmen: Einerseits gibt es Sozio- oder PsychopatInnen, denen soziale Regeln egal sind; andererseits so sehr indoktrinierte Menschen, dass bei ihnen diese menschliche Regung nicht mehr stärker sein kann als ihre Mitarbeit an und Unterstützung für Unrecht.

Eine starke Szene im Film ist wohl auch künstlerische Freiheit: Der Papst betrachtet Zeitungen aus der ganzen Welt, die sich mit dem Fall beschäftigen. Darunter auch eine Karikatur, die die erzwungene Beschneidung des Papstes andeutet. Davon träumt der dann auch: Finstere Figuren umgeben ihn und führen die Beschneidung durch. Wenn das eine Art Motiv zur ausgleichenden Gerechtigkeit im Kontrast zur Entführung gewesen sein sollte, ist dies, wenn man es zu Ende denkt, gründlich schiefgegangen. Es waren ja die Eltern von Edgardo, die genau dies ihrem Sohn und seinen Brüdern angetan haben. Der Penis des Chef-Volcels war zu keiner Zeit in Gefahr.

Interessant fand ich, dass in den dargestellten Gottesdiensten häufig Kirchen zu sehen sind, die bis auf die Handelnden ziemlich leer stehen. Ob das ein Verweis auf die heute so leer bleibenden Kirchen ist? Jedenfalls sieht man selten normale, nicht mit dem Vatikan in Verbindung stehende Menschen in den Kirchen. Anwesend sind hauptsächlich der aufgeblähte Apparat der verkleideten Berufschristen sowie ihre Opfer.

Von idiotischen Ritualen gibt es auch genug. Wer sehen möchte, wie ein Papst auf allen Vieren eine heilige Treppe hinaufkriecht, während er Gebete aufsagt, kann das im Film haben. Mehrmals sind aber auch entwürdigende, vom Papst angeordnete Unterwerfungsrituale zu sehen – ein geistlicher Anführer, der im Mittelalter steckengeblieben ist und seine Macht missbraucht.

Insgesamt ein sehenswerter Film, der auch durch die kleinen und größeren Abweichungen von der wahren Geschichte spannend bleibt. Eine Dokumentation des geistlichen und wahrscheinlich körperlichen Missbrauchs, der dazu geführt hat, dass ein geraubtes Kind sich von seiner Familie abwendet und sich der Entführerorganisation anschließt, ist darin allerdings nicht enthalten, genausowenig wie eine Auseinandersetzung mit anderen Verbrechen des Kirchenstaates.

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