Zeugin des Kreationismus

Der Brief der Zeugin Jehovas hat diesmal etwas länger auf sich warten lassen. Ich bin offensichtlich kein einfacher Brieffreund und fordere sie. Im neuen Brief, der kurz nach der Wintersonnenwende eintraf, geht es um Wunder, die Gott-Eigenschaft von Jesus (Spoiler: Leider nein) und um die Unfehlbarkeit der Bibel. Auch mit Kreationismus-Propaganda wurde ich reich beschenkt.

Wunder und die Bibel

Ich habe ja als erste Stufe von Wie du uns bekehren kannst nach Belegen für die Existenz übernatürlicher Ereignisse gefragt, weil ohne diese die Annahme eines übernatürlichen Wesens unnötig ist.

Die Briefschreiberin beteuert, dass die Bibel von Wundern berichtet, aber auch erklärt, dass sie ein Ende haben sollten. Die Wunder dienten nämlich nur dazu, Jesus als Messias kenntlich zu machen. Auch die frühen Christen hätten die Fähigkeit gehabt, Wunder zu wirken. Aber die Bibel erklärt (wo?), dass es mit den Wundern vorbei sein sollte, sobald sie nicht mehr benötigt würden. Und sie sind heute nicht mehr nötig. (Wirklich? Viele christliche Glaubensgemeinschaften würden ein Wunder brauchen, um nicht in der Bedeutungslosigkeit zu verschwinden.)

Hmm, andere christliche Bekenntnisse haben offizielle Prozesse zur Anerkennung von Wundern oder rühmen sich mit Heilungswundern. Wäre ich leichtgläubig genug, sie damit ernst zu nehmen, wären die Zeugen Jehovas gerade wesentlich weniger attraktiv für mich geworden. Es braucht also genau die richtige Menge an Leichtgläubigkeit – nicht zu wenig, nicht zu viel. Ein enger Korridor: An aktuelle Wunder gerade nicht mehr glauben, an vergangene schon. Ich fühle mich da theologisch nicht wirklich gut betreut.

Paukenschlag im Brief: Man kann die Bibel selbst auch als Wunder bezeichnen. Wow, jetzt sind wir wieder im Geschäft. Warum Wunder? Sie wurde in einem Zeitraum von ca. 1600 Jahren von 40 Personen geschrieben. Trotzdem dreht sich alles um ein zentrales Thema. Welches? Das erfahre ich nicht. Wenn ich raten müßte: Unser Gott ist der beste, aber wir haben noch nicht herausgefunden, wie wir das sinnvoll argumentieren.

Danach fällt die Briefeschreiberin in ihre eigene viele Prophezeiungen, die sich erfüllt haben-Falle und bringt als Beispiel die Zerstörung Babylons, die 200 Jahre im Voraus vorhergesagt worden sein soll. Dass es recht üblich war, nachträglich in Kenntnis der Ereignisse Vorhersagen zu machen und rückzudatieren, erwähnt sie nicht. Sehr viele zentrale Behauptungen im alten und im neuen Testament historisch und archäologisch nicht nur nicht belegt, sondern widerlegt. Über naturwissenschaftliche Aussagen schweigen wir lieber.

Die Zeugin empfiehlt nachdrücklich, in die Bibel zu schauen, weil man ja für ein neues technisches Gerät auch in die Betriebsanleitung schaut, nicht in ein Kochbuch. (Das eine hat mit dem anderen nichts zu tun; wer behauptet, die Bibel, ein altes Buch mit Teilen aus mehreren Jahrhunderten sei die Betriebsanleitung fürs heutige Leben, muss das erst belegen.)

Jesus ist kein Gott

Dann äußerst sie sich noch zu meiner Frage in der letzten E-Mail, ob Gott jetzt Jehova oder Jesus heißt. Natürlich vertritt sie in dieser Frage die innerhalb des Christentums weniger verbreitete Ansicht, Jesus sei kein Gott. Dies unterscheidet die Zeugen Jehovas von den meisten anderen christlichen Bekenntnissen. Zu dieser Frage will ich als jemand, der an GöttInnen nicht glaubt, hier nicht Stellung nehmen, das sollen sich die Christen auf Basis ihres großartigen Buches, mit dem alles und sein Gegenteil belegt werden kann, einfach selbst ausmachen. Dies gehört zu den Fragen, in denen nicht beide Positionen wahr sein können, aber sehr leicht beide falsch.

Diese Frage ist meiner Brieffreundin jedenfalls so wichtig, dass sie mehr als eine handgeschriebene A4-Seite mit Bibelzitaten dazu füllt. Für Gegenargumente im Sinne einer ausgewogenen, intellektuell redlichen Betrachtung dieses Themas wäre aber noch die Rückseite des Blattes frei gewesen, diese hat sie nicht genutzt.

Kreationismus statt Wissenschaft

Neben dem Brief hat sie noch eine Web-Adresse mitgeschickt, die ich hier nicht mit einem Link aufwerten werde: https :// www.jw.org/de/bibliothek/ buecher/ursprung-des-lebens-5-fragen-kritisch-beleuchtet/

Dort sind längere Abhandlungen zu Ursprung und Entwicklung des Lebens auf der Erde verlinkt. Die Zeugen Jehovas sind ja in unseren Breiten die bekanntesten VertreterInnen kreationistischer Positionen, und diese Webseite soll ihre Vorstellungen dazu kommunizieren. Es ist schwierig, Dummes und Falsches zu belegen, also greifen sie zu manipulierender Argumentation. Z. B. präsentieren sie für die Entstehung der ersten primitiven Lebensformen mehrere plausible wissenschaftliche Theorien und tun so, als würden sie sich widersprechen und deswegen alle abgelehnt werden können. In Wirklichkeit ist es so, dass wir damit mehrere naturwissenschaftliche Antworten auf die Frage, wie das Leben entstanden sein kann, haben. Wie es konkret auf der Erde entstanden ist (vielleicht auch mehrmals unabhängig voneinander, mit mehreren Mechanismen), werden wir mangels Zeitmaschine nicht feststellen können, und das ist auch in Ordnung. Die Zeugen betreiben hier quote mining, aus dem Zusammenhang gerissene Äußerungen von akademischen WissenschaftlerInnen, um die Zweifel, die sie wecken, mit einem Schöpfer zu erklären – was natürlich nicht aus den Ausführungen folgt. Nur weil man eine Theorie widerlegt hat (was ihnen ja nicht mal gelingt), wird eine wilde, unwissenschaftliche und komplett unbelegte andere Behauptung nicht automatisch wahr.

Das gleiche Kunststück versuchen sie nochmal mit der Evolutionstheorie. Sie erwähnen Publikationen, in denen Darwins mehr als 150 Jahre alte Ansichten präzisiert wurden (z. B. dass es keinen Baum des Lebens mit ausschließlich vertikaler Abstammung gibt, sondern auch Gentransfer zwischen Organismen, weswegen der Baum mehr einem Netz ähnelt), und bauschen diese zu die Evolutionstheorie ist nicht wissenschaftlich auf. Wieder soll die Bibel den Ausweg liefern. Wenn die doch nur irgendwie wissenschaftlich wäre … was sie nicht ist.

Ich bin ja der Meinung, Menschen sollen glauben, was sie wollen, ob es sich auf die Wahrheit der Bibel und der Prophezeiungen darin oder auf Jesus' Gottgleichheit bezieht. Und zwar, solange das ihr privater Glaube ist und sie damit nicht in die Öffentlichkeit treten, um Wissen und Wahrheit aktiv zu sabotieren, oder auf andere Weise Nichtbeteiligten zu schaden. (Man sollte aber solchen Eltern, die ihren Kindern – Nichtbeteiligten – lebensrettende Bluttransfusionen verweigern, die Kinder wegnehmen.) Diese Grenze ist hier eindeutig überschritten: Mit der Verbreitung dieser Falschinformationen, die dem Stand der Wissenschaft eindeutig widersprechen (und das schon vor 100 Jahren taten), wecken sie Zweifel an den Methoden, mit denen wir als Menschheit unser Wissen weiterentwickeln und ständig überprüfen können. Zum Glück lehnen die meisten Menschen aus Erfahrung automatisch ab, was von den als aufdringlich und problematisch bekannten Zeugen Jehovas kommt, und die Artikel auf der Webseite sind langatmig und -weilig . Viel Erfolg werden sie also damit nicht haben. Evolutionsleugnung mag allerdings bei einigen Menschen der Fuss in der Tür sein, der sie für eine breite Palette von Dummheiten wie Corona-Leugnung, Christentum und andere Esoterik öffnen kann.

An dieser Stelle überlege ich mir ernsthaft, die Kommunikation mit der Zeugin zu beenden und sie nur noch aufzuklären, an wen sie geraten ist. Wir werden das in den nächsten Tagen in der Telegram-Gruppe der Atheisten Österreich diskutieren.

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